Wenn Buenos Aires auf Oslo trifft
Fünf warm vibrierende Jazzbeats zwischen lateinamerikanischer Sonne und nordischer Brise
Du kennst das Gefühl, wenn eine neue Platte bereits nach den ersten Takten einen vertrauten Raum eröffnet, der gleichzeitig nach Fernweh schmeckt. Genau das passiert, sobald die Nadel, beziehungsweise dein Stream, auf „Overseas“ springt. Der argentinische Produzent Gas Lab aus Belén de Escobar, längst fester Bestandteil unzähliger Chillhop-Compilations und in diesem Blog ein alter Bekannter, hat sich mit dem norwegischen Trompeter Kristoffer Eikrem zusammengetan und eine fünfteilige EP gezaubert, die nicht nach konstruierter Fusion klingt, sondern nach einem organisch gewachsenen Dialog zweier Klangsprachen.
Gas Lab bleibt seiner Vorliebe für latin-getränkte Basslines treu, die er seit Jahren in diversen Kollaborationen kultiviert. Eikrem bringt dagegen den kühlen Atem des skandinavischen Jazz ein, lässt aber jegliche akademische Strenge außen vor. Stattdessen perlt seine Trompete so weich durch die Arrangements, dass man fast vergisst, welches Instrument gerade beteildigt ist. Die beiden Akteure begegnen sich absolut auf Augenhöhe. Kein Beat drängt in den Vordergrund, kein Solo signalisiert Egotrip. Vielmehr entsteht eine geschlossene Textur, eine wohlige Melasse, in der Beats, Rhodes, Percussion ihre Rollen fließend tauschen. Dabei kriegt jeder Ton genügend Luft, obwohl die Stücke kompakt gehalten sind. Und ihr habt es sicher schon oft wahrgenommen, unter drei Minuten neigen Produktionen oft zur Hektik. Hier fühlt sich jede Sequenz wie ein entspanntes Gespräch in der Abendsonne an. Alles smooth.
Gleich zu Beginn setzt „Retrospect“ den Fokus auf Erinnerung. Ein gedämpftes Piano schiebt sich in eine dezente Kick, anschließend gleitet Eikrems Horn als sachte Melodielinie darüber. Der Beat bleibt bewusst minimal, was Raum für das wichtigste Instrument lässt: Stille. Das ist cool, weil man es ertsmal nicht so erwartet. Die Pausen atmen nämlich hörbar, wodurch das Thema Vergänglichkeit greifbarer wird.
„Palmera“ zieht die Stimmung leicht an, ohne das Tempo zu erhöhen. Ein verspielter Basslauf tänzelt um Percussion-Akzente, während eine kurze Bläserphrase wie ein laues Küstenlüftchen vorbeistreicht. Es darf ruhig sommerlich klingen, ist der Sommer doch bald am Start und die Temperaturen bis zum Wochenende auch. Doch die Produktion vermeidet jede Strand-Klischee-Falle. Statt auf Polfilter-Postkartenidylle setzen die beiden auf subtile Textur. Ein angedeuteter Vinylknister hier, ein gedoppelter Hi-Hat-Wirbel dort – fertig. ChillHop lässt grüßen.
Track Nummer drei, offiziell einfach als dritter Slot gelistet, überrascht mit einer für Gas Lab untypischen Harmonik. Ein Akustik-Gitarrenloop zupft eine leicht melancholische Akkordfolge, über die Eikrem zunächst nur mit Atemgeräuschen der Trompete malt. Erst nach einer halben Minute bildet sich ein Thema, das weder vollständig Major noch eindeutig Minor ist. Diese Ambivalenz macht den Track zum emotionalen Dreh- und Angelpunkt der EP. Man könnte fast den Eindruck bekommen, das Stück stünde für den tatsächlichen Transfer „übersee“, also das Übergangsgefühl zwischen Abflughalle und Ankunftsgate am Flughafen.
„Tropicalia“ erfüllt danach, was der Name verspricht. Gas Lab setzt auf geschichtete Congas und schwebende Fender-Rhodes-Klänge. Eikrems Trompete wechselt in ein gedämpftes Flüstern, das sich eher wie ein Posaunen anfühlt. Der Track lädt zum Kopfnicken ein. Du kannst dazu arbeiten, kochen oder einfach nur die Fenster öffnen und den ersten Freibadgeräuschen im Hintergrund lauschen. Alles passt.
Schließlich rundet „Overseas“ das Mini-Album ab: Ein sanft pumpender Upright-Bass, dezentes Sidechain-Geflüster, darüber ein von Delay umspieltes Trompeten-Leitthema. Dieses Finale verdichtet noch einmal das Grundkonzept der Kollaboration, Distanz überwinden, indem man musikalisch ein gemeinsames Zuhause baut.
Natürlich denkt man bei Gas Lab sofort an frühere Projekte, die in Chillhop-Kreisen längst Dauerrotation genießen. Die dort etablierte Mischung aus organischen Samples, warmem Low-End und feinen Bläsersätzen wird hier weitergedacht, diesmal allerdings mit einem klar umrissenen ästhetischen Gegenüber. Während Gas Lab früher Gast-Solisten eher minimalistisch ins Geschehen integrierte, erhält Eikrem nun die Rolle eines gleichberechtigten Ko-Autors. Das ändert die Dynamik spürbar. Die Arrangements bauen weniger auf Loop-Variationen, stattdessen entwickelt sich jedes Stück wie eine eigene kleine Geschichte mit Einleitung, Wendepunkt, Ausklang. Trotz der Kürze bleibt kein offenes Ende zurück. Das ist schon beeindruckend gut umgesetzt worden.
Klanglich setzt Gas Lab unverkennbar wie immer auf analoge Wärme.
Wer genau hinhört, erkennt den subtilen Sättigungsrand, den eine gut gewartete Bandmaschine hinterlässt. Das ist kein Retro-Fetisch, sondern bewusstes Textur-Design. Eine Audio-Visitenkarte würde ich sagen. Die Drums liegen trocken im Raum, die Bässe vibrieren ohne matschige Überbetonung, die Trompete schwebt ein Stück weiter vorne, beinahe zum Anfassen. Bei hoher Lautstärke bleiben die Höhen trotzdem weich, bei Kopfhörerbetrieb wird jeder Mikro-Hall hörbar. All das zeigt, dass hier nicht bloß Dateien hin- und hergeschoben wurden. Man spürt, dass beide Musiker Zeit investiert haben, die gemeinsame Klangfarbe auszuloten, statt lediglich Stems übereinanderzulegen. Synergien geschickt genutzt.
Rein inhaltlich handelt „Overseas“ vom Unterwegssein und vom Verbinden. Die Songtitel spielen darauf an, doch wichtiger ist das Gefühl, das beim Hören entsteht. Du hörst einer Unterhaltung zu, bei der keine Sprache dominiert. Lateinamerikanische Rhythmusfragmente treffen auf nordische Klarheit, ohne dass eines das andere einsaugt. Am Ende entsteht nicht Argentinien meets Norwegen, sondern ein dritter, eigenständiger Raum, in dem Kopf und Hüfte gleichermaßen Platz finden. Vielleicht ein wenig so, wie Transatlantyk.
Wer mit der EP ein akustisches Postkarten-Festival erwartet, liegt falsch. „Overseas“ lebt von Nuancen, nicht von Knalleffekten. Was wiederum genau mein Ding ist. Die Tracks eignen sich als Soundtrack für späte Büro-Sessions, Schwebebahnfahrt in die Abenddämmerung oder das erste Getränk nach einem langen Tag. Jeder Lautsprecher, der halbwegs ehrlich arbeitet, lässt dich das handwerkliche Detailreichtum entdecken, das Gas Lab seit Jahren auszeichnet und das Eikrem hier mit frischem Atem belebt.
Du musst keine Vinyl-Vorbestellung abwarten, um das zu erleben. Ein Klick auf den Stream-Link und du stehst direkt an der Gangway.